Als wir über die Grenze nach Litauen fuhren, konnte ich die Tränen nicht mehr zurückhalten. Die Erkenntnis, dass meine Zeit in Lettland wirklich vorbei war, war endlich angekommen. Klar waren die vorherigen Wochen bereits von (auch tränenreichen) Abschieden geprägt, die eine richtige Realisation gab es erst als ich in dem gemieteten Camper mit meinen Eltern die Grenze überquerte.
Ein letztes Mal heißt es von mir: Sveiki (mittlerweile wieder aus Deutschland). Ich bin vor einer Woche von meinem 10-Monatigen Freiwilligendienst in Balvi, Lettland wiedergekommen. Seit meinem letzten Bericht vor 3 Monaten wurde mein Leben dort von dem überraschend heißen Wetter (wobei sich nach einem Winter mit -30°C alles warm anfühlt), den rapide kürzer werdenden Nächten, in denen es nicht mehr dunkel wird und dem Gefühl des baldigen Abschieds beeinflusst.
Natürlich war unser Arbeitsalltag (zumindest bis zum Ferienbeginn Anfang Juni) noch normal; wir gingen in die verschiedenen Jugendzentren und Schulen, waren im Kindergarten und hatten einige große und aufwändige Freitags – Events. Highlights von letzteren beinhalten etwa ein Krimi – Dinner (das Aufwändigste, was wir in unserer Zeit in Lettland je gemacht haben), ein internationales Kartoffel – Event und der ESC – Abend. Bei den „Camps“ in den Jugendzentren im Juni für Kinder im Grundschulalter waren wir Unterstützer, Unterhalter und Betreuer. Und als Anfang Juni das internationale Tanzfestival Eima, eima in Balvi stattfand, tanzte ich mit.
Und trotzdem konnte ich den Gedanken an das „baldige“ Ende nie wirklich vergessen, lauerte doch dahinter die Unsicherheit eines Reverse Culture Shocks, des anstehenden Studiums und die Angst, jeden persönlichen Fortschritt den ich in Lettland erzielt habe hinter mir zu lassen sobald sich das Umfeld ändert – und somit traf mich das Ende hart.
Doch ich will nicht schwarzmalen. Nach ein wenig Eingewöhnung muss ich sagen, dass viele dieser und weiterer Befürchtungen sich bis jetzt nicht bewahrheitet haben. Und die Erfahrung des ESK war für mich eine persönlich sehr wichtige. In den letzten Monaten bin ich menschlich gewachsen, bin spontaner und stressresistenter geworden. Ich habe so viel Selbstvertrauen wie noch nie in meinem Leben und kann das erste Mal ohne in Panik zu verfallen Vorträge halten, vor Menschen reden. Auch habe ich eine gewisse „kulturelle Offenheit“, weniger eine West- und mehr eine Gesamteuropäische Perspektive. Für all das bin ich dem Projekt sehr dankbar, und ich kann es kaum erwarten, wieder nach Lettland zu reisen.
Das Zwischenjahr, was ich mehr als Puffer zwischen Schule und Studium ohne festes Ziel plante, ist zu mehr geworden. Natürlich nahm ich mir im September vor, mir alle Mühe zu geben um über den Tellerrand hinaus zu schauen, mich weiter zu entwickeln und neue kulturelle Erfahrungen zu sammeln. Neben diesen Dingen, die alle eingetreten sind, hat mich doch eines immer wieder überrascht: das Zusammenhaltsgefühl sowohl im Kollegium als auch mit den anderen Freiwilligen, vor allem unserer Freundesgruppe in Gulbene. In diesen Gruppen habe ich mich sehr wohl gefühlt und mit ihnen tolle Dinge erlebt, und ohne ein solches Gefühl oder solche Menschen wäre mein Aufenthalt in Lettland definitiv anders geworden.
Und so habe ich die letzten Wochen noch genutzt, war in Tartu, Tallinn und Ventspils im Urlaub und auf Exkursion im Süden Lettgallens. Ein letztes Mal im Kindergarten, ein letztes Mal in Riga, ein letztes Mal im Jugendzentrum, ein letztes Mal ein Abendspaziergang, ein letztes Treffen mit unseren Freunden in Gulbene, der letzte Wochenbericht, das letzte Tanzkonzert,…
Und ganz am Ende stand das Highlight des lettischen Jahres: die Mittsommerfeier Līgo un Jāņi vom 23. auf den 24. Juni. Dafür waren wir bei einem kleinen „Festival“ im Hinterland campen und haben uns alle Mühe mit den Traditionen gegeben (Blumenkronen tragen, Käse essen, und Unmengen an Bier trinken bis die Sonne aufgeht). Daneben gab es auch Aktivitäten wie ein Staffelspiel, Bieryoga, ein Schießstand, das Entzünden des großen Feuers, das die ganze Nacht hindurch brennen muss und der Naked Run um Mitternacht. Das Gefühl war einmalig und ich nehme mir fest vor, nächstes Jahr zu Līgo wieder in Lettland zu sein.
Wie ich nun auf meine Zeit zurück schaue? Mit vielen guten Erinnerungen, Freude darüber, diese Erfahrungen gemacht zu haben und bereits etwas Nostalgie. So wie mein Dorf im Erzgebirge und die Stadt, wo ich zur Schule ging mein Zuhause sind, ist nun auch Balvi ein Stück weit mein Zuhause, und ich hoffe, bald wieder dort zu sein, am See spazieren zu gehen und Automatenkaffee zu trinken.
Zum Schluss noch einige Zahlen (basierend auf meinen durchgehenden Aufzeichnungen):
- Zwischen November und Mai aßen Erik und ich 21 mal Kartoffelbrei in einer Schulkantine.
- Ich nahm während der Zeit in Lettland 262 Mal öffentliche Verkehrsmittel (nicht mit einbezogen sind die Fahrten, welche ich zu meinem Weihnachtsbesuch zu Hause machte).
- Die Zeit in öffentlichen Verkehrsmitteln summiert sich auf ~295h.
- 120h davon wurden in Bussen von Balvi nach Riga / Riga nach Balvi verbracht.
- Insgesamt habe ich 14 mal in Riga übernachtet.
- Ich habe 25 verschiedene lettische Städte besucht.
Damit verabschiede ich mich. Was meine Zukunft bringt, kann ich nicht wissen. Ich weiß nur, dass ich für immer auf meine Zeit in Lettland zurückblicken kann und denken werde: das war mal wirklich eine gute Lebensentscheidung.
Uz redzēšanos!
Charlotte verbachte ihren Freiwilligendienst in der NGO Kalmārs, ihr Projekt wird ko-finanziert von der Europäischen Union.