Wenn wir lettische Jugendliche treffen und ihnen erzählen, dass wir als Freiwillige in Balvi arbeiten, ist ihre erste Reaktion meist, zu fragen, ob wir verrückt sind und warum wir sowas machen sollten. Um ehrlich zu sein, kann ich diese Reaktion auch verstehen. Auf den ersten Blick ist unser Projekt in der lettischen Kleinstadt Balvi, einem 5000 Einwohner – Ort im Osten des Landes, nur etwa 30 km von der russischen Grenze entfernt, nun definitiv nicht das Naheliegendste, was deutsche Jugendliche nach ihrem Abitur machen könnten. Doch je mehr Zeit ich hier verbringe, desto froher bin ich über meine Entscheidung, die nächsten 10 Monate hier zu leben und zu arbeiten.
Sveiki! Mani sauc Šarlote, man ir astoņpadsmit gadu un es esmu no Vācijas (Hallo! Ich heiße Charlotte, bin achtzehn Jahre alt und komme aus Deutschland). Und ich arbeite seit Anfang September bis nächsten Juni gemeinsam mit Erik bei der NGO „Kalmārs“ im nördlichen Lettgallen, einer der historischen Provinzen Lettlands. Ich absolviere also ein „klassisches“ Gap Year zwischen Abitur und Studium in der Hoffnung, neue Erfahrungen zu machen, vielleicht sogar eine neue Sprache zu lernen und Menschen kennenzulernen. 2 von 3 dieser Punkte klappen auch ganz gut, nur mit Lettisch hapert’s noch etwas. Dabei ist weniger die Aussprache oder das Tempo das Problem, sondern mehr die Bildung eigener Sätze, da sich Wortendungen gerne dekliniert komplett (und aus meiner Sicht komplett unlogisch) verändern. Gleichzeitig ist zumindest grundlegendes Lettisch notwendig: nicht wenige Menschen, die wir treffen, sprechen kaum Englisch (oder wollen kein Englisch sprechen), weshalb wir auf Google Translate, Zeichensprache sowie unser begrenztes Vokabular vertrauen müssen. In Zukunft wird das noch hoffentlich besser werden – genug Gelegenheit, uns auszuprobieren, haben wir ja.
Kalmārs, unsere Aufnahmeorganisation, koordiniert Jugendzentren im ganzen Bezirk. Wir arbeiten deshalb über die Woche verteilt nicht nur in Balvi, sondern auch in Viļaka, Semenova, Rugāji sowie manchmal Rekova – alles kleinere Orte mit Schulen und Jugendzentren, in welchen wir die Lehrer und Jugendarbeiter unterstützen. In Rugāji helfen wir zudem einmal in der Woche in einem Kindergarten aus. Unterstützen heißt in unserem Fall, dass wir uns Aktivitäten für die „Youngsters“ überlegen, diese mit ihnen durchführen, und unseren Kolleginnen bei ihren Aktivitäten unter die Arme greifen. Das kann alles sein, z.B. ein Kochworkshop, Gitarrenunterricht oder eine Schnitzeljagd – im Schnitt haben wir 2 bis 3 eigene Aktivitäten in der Woche. Hauptsache ist, dass wir die Kinder und Jugendlichen im Alter von 5 bis 18 Jahren sinnvoll beschäftigen, ihnen einen Einblick in unser Leben außerhalb Lettlands geben. Je ländlicher der Ort ist, desto wichtiger finde ich unsere Arbeit. Für viele sind wir auch die ersten Deutschen, mit denen sie in Kontakt kommen, und dieser erste Eindruck daher nachhaltig.
Die Unterschiede zwischen Deutschland und Lettland sind dabei auf den ersten Blick nicht groß – wir haben die gleiche Währung, die gleichen Steckdosen und essen irgendwas mit Kartoffeln, Körnern und Fleisch. Deshalb würde ich auch nicht sagen, dass ich einen Kulturschock oder ähnliches hatte. Einige Dinge waren für mich trotzdem eine Überraschung oder Umstellung, etwa wie viele Busse hier täglich in alle umliegenden Orte fahren (und dass die Kurzstrecken – Busse aussehen wie umgebaute Kinderentführungs-Vans), und wie billig die Busfahrten sind (die 4h – Fahrt von uns nach Rīga kostet nicht einmal 9€). Der große, nach außen getragene Patriotismus der Letten, und der oft in Gesprächen mitschwingende Konservatismus (wie auch leider Rassismus und Homophobie). Das Traditionsbewusstsein, das durch alle Altersgruppen geht und sich in der Pflege alter Bräuche, Tänze, Symbole und Feste äußert, wie etwa dem „Lāčplēša Diena“ am 11. November oder dem alle 5 Jahre stattfindenden „Vispārējie Latviešu Dziesmu un Deju svētki“ (Lieder- und Tanzfestival). Wie verschlossen die Menschen bei der ersten Begegnung sind, und welche Wandlung sie durchleben, wenn sie auftauen und sich an uns gewöhnen. Die Spontanität vor allem der jungen Menschen, und dass wir immer noch ständig neue Leute in Balvi kennenlernen. Dass viele Schulen anschließende Internate haben, da viele Kinder so ländlich wohnen, dass eine Schulbildung in Person anders nicht möglich ist (in so einem Internat sind auch wir untergebracht). Dass Autos an Zebrastreifen wirklich halten, dass der inoffizielle Nationalsport Laubrechen zu sein scheint, dass wir von 3 mal Schulessen in der Woche garantiert wenigstens 2 mal Kartoffelbrei mit Rohkostsalat bekommen, und und und…
Außerhalb der Arbeit tanzen Erik und ich – typisch lettisch – in einer Volkstanzgruppe für Jugendliche; für mich eine komplett neue, aber aufregende und herausfordernde Erfahrung. Und am Wochenende treffen wir uns auf „Ballīte“ genannten Partys mit Freunden oder machen Ausflüge (bisher war ich in Alūksne, Sigulda, Gulbene und zweimal in Rīga). Ansonsten hat Balvi auch 3 Seen und weitläufige Wälder (vor einigen Wochen haben wir an einer 21km langen Wanderung über die wahrscheinlich einzigen Hügel im gesamten Landkreis teilgenommen). Sich draußen aufzuhalten wird aber immer ungemütlicher. Im September hatten wir noch Temperaturen von 25°, doch davon ist schon lange nichts mehr spürbar. Der Umschwung zum Herbst kam plötzlich, mit Windböen und starkem Regen, und ist aktuell drauf und dran, sich zum Winter zu wandeln (den ersten Schnee hatten wir bereits Mitte Oktober). Um mich daran anzupassen, versuche ich täglich einen Spaziergang durch den Ort zu unternehmen, doch ob ich das auch noch bei den von unseren Kolleginnen angekündigten -20° selbst mit meiner dicksten Winterkleidung und Automatenkaffee ausgestattet durchziehen werde, bleibt abzuwarten.
Das bisher schönste Erlebnis war für mich das On-Arrival – Training in Ādaži, einer Stadt in der Nähe von Rīga. Über 5 Tage haben wir dort mit anderen ESK-Freiwilligen aus ganz Europa, die gerade in Lettland sind, Workshops durchgeführt und uns ausgetauscht und vernetzt. Ich bin gespannt auf zukünftige gemeinsame Aktivitäten und Reisen (besonders mit den Freiwilligen in der nächsten Stadt Gulbene sind wir in ständigem Kontakt, besuchen uns und haben bereits gemeinsam eine Aktivität durchgeführt) und freue mich auf das nächste Wochenende, wenn ich zum Nationalfeiertag nach Rīga fahren werde.
Ich hoffe, dass die nächsten Wochen und Monate so abwechslungsreich werden wie die letzten, dass der Winter nicht zu kalt wird, uns die Ideen nicht ausgehen und wir nicht mit dem Bus stecken bleiben – aber mal sehen, was meine Zeit hier noch so bringt.
Uz redzēšanos!
Charlotte
Charlotte verbringt ihren Freiwilligendienst in der NGO Kalmārs, ihr Projekt wird ko-finanziert von der Europäischen Union.