Turbulenter ESK-Freiwilligendienst in 2 Ländern
17.7.2022
Ich komme aus Deutschland, vom schönen Bodensee. Dort wollte ich aber früh nur weg, zuerst für das Umweltinformatik-Studium nach Berlin. Danach habe ich mit weltwärts einen Freiwilligendienst in Benin, Westafrika gemacht. Dabei habe ich schon enorm viel lernen können, sodass es mich im nächsten Studium mit Erasmus nach Frankreich gezogen hat, und danach mit dem ESK in die Ukraine. Die Freiwilligenarbeit habe ich vermisst, ich wollte eine slawische Sprache lernen, und dachte der Austausch mit Ländern die noch nicht in der EU sind ist sinnvoller. Und so schnell landet man in Vinnytsia, einer schönen Unistadt in der Zentralukraine, und in der NGO Pangeya Ultima (– Familie).
In Vinnytsia waren meine Aufgaben sehr vielfältig. Ein mal die Woche habe ich einen Deutschkurs mit meinem Mit-freiwilligen Juliusz veranstaltet, worin es auch viel um die deutsche Kultur ging. An einigen Wochenenden waren wir im Dorf “Stina” und haben dort verschiedene Arbeiten am EkoCenter von Pangeya Ultima erledigt. Das war wirklich spannend, da sich auch in der Ukraine das Leben auf dem Land sehr vom Stadtleben unterscheidet. Außerdem habe ich am Interkulturellen Magazin “Mozaika” mitgemacht, und auf verschiedenen Wegen die Möglichkeiten der Erasmus- und ESK-Welt verbreitet. Außerdem konnte ich mit meinem Mit-freiwilligen David den Pangeya-Youth-Club etablieren. Hier haben wir uns regelmäßig mit jungen Leuten aus Vinnytsia getroffen und zusammen gespielt, gequatscht und gelacht, und es so den jungen Leuten in Vinnytsia ermöglicht auf spielerische Art und Weise gebrauch von ihren Englisch-Kenntnissen machen zu können.
Im Februar haben wir außerdem groß den 10. Geburtstag von Pangeya Ultima gefeiert, zusammen mit vielen Gästen. Mit Juliusz und anderen haben wir in dieser Zeit auch ukrainische Volksmusik geübt und an diesem Abend ein Lied aufgeführt. Es war eine schöne große Feier, mit vielen Gästen. In der westlichen Presse gab es zu diesem Zeitpunkt schon viele Warnungen zur Sicherheit in der Ukraine. Das wollte vor Ort jedoch niemand wahr haben, alle waren an Provokationen von russischer Seite gewöhnt.
Schnell hatte ich in der Ukraine einen anderen Zugang zur Thematik Bürgerkrieg bekommen. Auch wenn Vinnytsia weit weg von der Front lag war das Thema doch präsent und ich habe gelernt es aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. In Deutschland ist Nationalstolz aufgrund unserer Geschichte nahezu ein Tabu, das ist in der Ukraine jedoch eine ganz andere Situation. Mit Beginn des Kriegs durch den Einmarsch von Russland habe ich mit anderen Freiwilligen das Land schnell verlassen. Das war schon mit Pangeya Ultima wie auch NaturKultur in Deutschland im Voraus aus Vorsicht geplant, und ich wurde in dem Moment auch von beiden Seiten bestmöglich unterstützt. Der Krieg hat für mich vieles auf den Kopf gestellt. Dass so etwas im Europa des 21. Jahrhunderts passieren könnte war unvorstellbar. Aber ich war schnell in Sicherheit, und habe mir „nur“ um Freunde, nicht aber meine Familie Sorgen machen müssen. Das Leid der Ukrainer*Innen ist unvorstellbar.
Wieder bei meinen Eltern am Bodensee angekommen habe ich meinen Freiwilligendienst fortgeführt, nun in der Hilfe für Geflüchtete. Wenn ich meinen Freunden vor Ort schon nicht helfen konnte, dann immerhin ihren Landsleuten, die es in meine Heimat verschlagen hat.
Meine neuen Aufgaben waren nun, wie auch schon zuvor, Deutschunterricht geben. Nun aber in einem ganz anderen Kontext, auch wenn der größte Teil meines Publikums wieder Ukrainer*Innen waren. Außerdem habe ich in einer Grundschulvorbereitung für geflüchtete Kinder aus Syrien und Afghanistan geholfen. Hier haben mir meine Grundkenntnisse in ukrainisch nichts gebracht, und ich habe mich in Kommunikation durch Hände, Füße und Zeigen/Vormachen geübt. Bald habe ich auch im wöchentlichen Ukraine-Café von der Caritas Konstanz mitgemacht. Hier habe ich im Café-Betrieb geholfen, je nach Bedarf aber auch den Integrationsmanager*Innen konkret beim Anträge-Ausfüllen geholfen. Hier konnte ich von meinen Kolleg*Innen einen guten Einblick bekommen was die Menschen bei der Ankunft alles tun müssen, und vor allem welch eine Bürokratie-Hölle sie durchgehen müssen. Außerdem konnte ich einigen Ukrainer*Innen auch mit kleinen Diensten helfen, zum Beispiel die Organisation von einem Arzttermin, die Vermittlung von Adressen wo es günstig Kleidung und Dinge des täglichen Bedarfs gibt, oder bei der Kommunikation auf eBay-kleinanzeigen.de.
All diese neuen Erkenntnisse habe ich gut gebrauchen können als ich mein Engagement in meinem Dorf, auf der Insel Reichenau fortgeführt habe. Dort habe ich im Rathaus mit meinen Sprachkenntnissen helfen können, und daraus haben sich einige Kooperationen entwickelt. Ich habe durch einen Aufruf in der Lokalzeitung einige ehrenamtliche Sprachhelfer*Innen gefunden, mit denen wir einen einfachen Deutschkurs etablieren konnten. Das war ein erster Erfolg, wodurch ich dann auch eine Deutschlehrerin gefunden habe, die nun in Kooperation mit der VHS einen Integrationskurs im Rathaus Reichenau macht. Dies ist eine große Erleichterung, da der Weg mit dem ÖPNV zur nächsten Stadt mit Deutschkursen wirklich kompliziert für die Geflüchteten ist. Hier möchte ich mich noch einmal bei allen Freiwilligen auf der Reichenau bedanken, ohne euch wäre das alles nicht möglich gewesen. Durch die ersten Deutschkurse haben sich auch schon erste Freundschaften gebildet, und die Integration in die Vereine vor Ort beginnt ebenfalls.
Mary von Pangeya Ultima hat wegen dem Krieg ein zeitweise neues Zuhause in Berlin gefunden. Dort habe ich sie und ihre Kinder Zorjana und Miroslav besucht. Freunde aus dem Leben vor dem Krieg wiederzusehen war ein unglaublich schöner Moment, wenn auch mit einem grässlichen Hintergrund.
Bei meiner Arbeit in Deutschland wusste ich oft nicht was jetzt ein guter nächster Schritt ist. Also habe ich viel verschiedenes versucht, sehr proaktiv gehandelt, und auch wenn nicht alles geklappt hat was ich mir vorgestellt habe, konnte ich doch einiges bewirken.
Insgesamt habe ich mehr gelernt als ich aufzählen könnte, aber hier ein kleiner Einblick:
- deutsch unterrichten (auf niedrigem Niveau)
- ukrainisch verstehen und sprechen (kein hohes Niveau, war aber dennoch sehr hilfreich)
- ich habe mich intensiv mit der Bürgerkriegs- und Kriegsthematik auseinandergesetzt und habe alte Denkmuster verworfen
- einen Einblick in die ukrainische Lebensrealität bekommen und in den Umgang mit ihrer sowjetischen Geschichte, sowie mit ihrer Geschichte insgesamt als von verschiedenen Seiten ausgebeutet und kolonialisiertes Land
- ein Einblick in Themen der Nachhaltigkeit in der Ukraine: z.B. Müll, erneuerbare Energien und illegale Abholzung
- die Möglichkeiten von “active citizenship” → was wird in der Gesellschaft benötigt, und wie kann ich etwas beitragen
- proaktives Handeln, verschiedene Institutionen für Kooperationen anfragen
- einen Einblick bekommen in die deutsche bürokratische Welt der Asylbewerbung/ Aufenthaltsgenehmigung/ Sozialleistungsbeantragung sowie in die Richtlinien für BAMF-finanzierte Integrationskurse
- Aufrufe zur Mithilfe starten, dafür entsprechende Mittel (Lokalzeitung) nutzen
- Motivation finden in Situationen in denen man sich unglaublich hilflos fühlt.
Für den ESK habe ich mich beworben weil ich vor allem wieder ins Ausland wollte, und eine neue Sprache lernen wollte. Nun bin ich auch froh den Dienst in Deutschland weitergeführt zu haben, da ich so einen intensiven Einblick in die Situation von Geflüchteten bekommen habe, die frisch in Deutschland ankommen. Hier war es teils schön zu sehen welche Infrastruktur hier schon bestand (meist seit der Flüchtlingswelle von 2015), teils aber auch erschreckend was alles nicht abgedeckt ist, und mit wie vielem die Menschen allein gelassen werden. Außerdem war jegliches Engagement immer schwierig mit dem Hintergrund einer 2-Klassen Struktur zwischen den Geflüchteten aus der Ukraine und den Geflüchteten aus anderen Ländern.
Auch wenn ich niemandem ein so turbulentes Jahr wie mein letztes Jahr wünsche, würde ich doch jedem einen ESK-Freiwilligendienst empfehlen. Man lernt nicht unbedingt das was man vorher erwartet, man erweitert eher seinen Horizont so stark dass man danach in der Lage ist noch viel wertvollere Fragen zu stellen als zuvor.
In der Ukraine war es mir im Winter zu kalt zum Reisen, sodass ich außer Vinnytsia und Stina nur einen kleinen Teil von Kiev gesehen habe. Lwiw, Charkiw, Odessa, Mariupol und so viele andere Städte und Regionen die ich im Sommer bereisen wollte sind jetzt unerreichbar, teils schwer zerstört. Mit meinen vielen neuen ukrainischen Bekanntschaften hoffe ich dass wir uns eines Tages in ihren Heimatstädten wiedersehen können. Und dass sie mir dann ihre Heimat zeigen können, nachdem ich ihnen geholfen habe in meiner Heimat zurecht zu kommen. Dass die Ukraine jetzt nur noch mit Krieg und Leid verknüpft wird ist traurig, wo ich doch eine so wundervolle Zeit in diesem riesigen, wunderschönen, und vielseitigen Land verbringen durfte.
Слава Україні!
Franziska Bärthele
Franziskas Projekt wurde durch JUGEND für Europa und das Europäische Solidaritätskorps finanziert.