Ich sitze in einem modernen Zug und wundere mich inzwischen nicht mehr darüber, dass die Leute außergewöhnlich blond sind und eine Sprache reden, die ich verstehe. Mein Blick aus dem Fenster zeigt einen grauen Himmel und ich fahre durch Dörfer, die mehr durch Funktionalität als Schönheit glänzen. Das ist die Landschaft des dichtbesiedelten und industriestarken NRW, wohlbemerkt an einem Junitag. Der Blick erheitert mich. Nebenher lese ich ein Stück zeitgenössischer französischer Literatur, denn seit meinem Europäischen Freiwilligendienst in Griechenland kann ich fließend Französisch. Ich habe über das Wochenende meine Familien erstmals nach meiner Rückkehr vor wenigen Wochen besucht und fahre nun zurück nach Leipzig, wo meine Freund*innen, mein neuer Job und mein neues Zimmer auf mich warten.
Jetzt, wo die erste Aufregung des Ankommens verflogen ist, versuche ich meine Erfahrung in Griechenland mit etwas Abstand zu reflektieren. Also zu Anfang: Wieso habe ich mich überhaupt für die Teilnahme am ESK entschieden? Unter anderem wegen dem tristen Blick aus den Zügen und auch, weil ich wusste, dass dieser Blick mir nach genügend Zeit wieder fehlen würde. Ich wollte mich woanders zuhause fühlen, eine neue Sprache lernen, spannende Bekanntschaften machen, nützliche Fähigkeiten erlernen, neue Perspektiven einnehmen, etwas Außergewöhnliches tun und dabei ein gemeinnütziges Projekt unterstützen.
Nachdem mein Aufenthalt etwas holprig begonnen hatte, ging es später in vielen Aspekten bergauf, wie ich in meinem ersten Bericht geschildert habe. Die zweite Hälfte meines Freiwilligendienstes war aber eher sehr herausfordernd. Vier Monate, die für eine seit 1,5 Jahrzenten bestehenden Organisation nur einen kleinen Ausschnitt darstellen, waren für mich das volle Bild. Meine Erfahrung ordne ich auch in diesen Kontext ein. Zu der Zeit, als ich in Epanomí war, war das Koordinator*innenpaar damit beschäftigt, ein Kind auf die Welt zu bringen, weshalb ich sie erst kurz vor Ende meines Aufenthalts erstmals getroffen habe. Es ist also jemand eingesprungen, der uns aber auch nach ein paar Monaten verlassen hat, sodass wir Freiwilligen für einige Wochen ziemlich allein waren und einzig von der Projektleitung koordiniert wurden. Hinzu kam, dass ich die einzige Langzeitfreiwillige war. So fühlte ich mich vorübergehend von den anderen Freiwilligen zu der neuen Koordinatorin ernannt. Eine Rolle, der ich selbstverständlich nicht gerecht werden konnte und die mich leider völlig überfordert hat. Auf der anderen Seite hat es mich geschmeichelt, dass die anderen Freiwilligen mich als kompetent wahrgenommen haben und ich mich zwischenzeitlich auch in einer leitenden Position wohl gefühlt habe, obwohl ich noch nie in meinem Leben Führungspositionen angestrebt habe.
Da wir eine kleine Gruppe waren, mussten wir den Großteil unserer Arbeitszeit der bloßen Subsistenz widmen: Kochen, Putzen, Essensspenden akquirieren, Unkraut jäten, etc. Zusätzlich habe ich mir ein großes Malprojekt vorgenommen, dem ich auch außerhalb der Arbeitszeiten viele Stunden gewidmet habe. Ich hatte zuvor wenig gemalt und hatte die Chance zu erfahren, dass ich gar nicht so unbegabt bin und außerdem riesige Freude am Malen finde. Es handelte sich um ein unfertiges Projekt eines anderen Freiwilligen. Er hatte seine Zeichnung auf die Wand übertragen, war jedoch nicht zum Malen gekommen.
Eine weitere Herausforderung war, dass die neuen französischen Freiwilligen teilweise gar kein Englisch sprachen, was für die Gruppendynamik natürlich nicht förderlich war und zudem eine große Bürde für diejenigen, die Französisch sprachen und somit die einzigen Ansprechpersonen für die besagten Freiwilligen waren (mitunter ich). Auf der anderen Seite konnte ich mir dadurch den Traum erfüllen, Französisch zu lernen, was ein tolles Erfolgserlebnis war. Um mein Griechisch war ich auch bemüht, wenn mir auch jegliche Übungsmöglichkeiten gefehlt haben, sodass ich über die Basics dieser wunderschönen Sprache leider nicht hinausgekommen bin.
Eines der schönsten Erlebnisse meines ESK in Griechenland war ein einwöchiger Youth Exchange, der bei Fix in Art im April stattgefunden hat. In dieser Woche konnte ich viele unheimlich interessante junge Menschen kennenlernen, inspirierende Gespräche führen und Freund*innenschaften schließen, die ich auch in Zukunft weiterpflegen möchte. Zwar habe ich es vorher schon gewusst, dennoch hat sich bestätigt, dass ich mich in mehrsprachigen Kontexten unglaublich wohlfühle und mich Mehrsprachigkeit in meinem Alltag zu leben, sehr glücklich macht. Nun möchte ich darauf einen großen Fokus legen und für die Zukunft nach Möglichkeiten suchen, dieser Leidenschaft nachzugehen. Mein Gefühl einer europäischen Identität, was ich vorher schon hatte, hat sich weiter gestärkt. Ich habe einen Einblick in die Arbeit EU-geförderter Projekte bekommen und kann mir vorstellen, mich weiter in diesem Bereich zu engagieren.
Ich habe viel darüber gelernt, was ich schlecht finde und was ich in meinem Leben in Deutschland sehr schätze. Ich habe von der Bedeutung von gelungener Kommunikation, Ehrlichkeit und Rücksicht anhand von einigen Negativbeispielen gelernt. Um Menschen dazu zu bewegen, sich für einen bestimmten Zweck zu engagieren, muss man zunächst gewährleisten, dass ihre Bedürfnisse gesehen und beachtet werden. Anderenfalls entsteht schnell Misstrauen, Passivität und ein Gefühl von Feindschaft. Ich habe anhand meiner Überforderung gelernt, dass ich mein Bestes tue und trotzdem meine eigenen Grenzen achten muss. Um nicht auszubrennen ist es eine wichtige Fähigkeit, das Chaos auch mal walten zu lassen und nicht immer einzugreifen, sodass auch andere Menschen die Notwendigkeit erkennen, einzuschreiten. Seit meiner Rückkehr spüre ich große Dankbarkeit für vieles, was mich umgibt. Ich bin sehr dankbar mich in der Anwesenheit meiner engen Bezugspersonen sicher und geborgen zu fühlen. Denn es ist nicht selbstverständlich, sich gesehen und verstanden zu fühlen, eine Weltsicht zu teilen und gemeinsame Werte zu haben. Trotzdem kann man auch mit Menschen zusammenwachsen, die sehr anders sind als man selbst. Ich bin unheimlich dankbar für meine Autonomie, auch wenn diese mit Verantwortung verbunden ist und überwältigend sein kann. „Angst ist der Schwindel der Freiheit“, hat es Kierkegaard einmal treffend formuliert. Unsere Lebenszeit ist sehr kostbar und es ist wichtig, diese mit sinnvollen Tätigkeiten zu füllen. Man kann sich auch an schwierige Situationen gewöhnen und Zufriedenheit finden, was gut ist. Trotzdem sollte man immer wieder überprüfen, ob man sich an Dinge gewöhnt hat, die eigentlich nicht zuträglich sind.
Mein Fazit ist: Solange die positiven Aspekte überwiegen, lässt es sich an vielen Herausforderungen im Kontext eines Freiwilligendienstes wachsen. Gute Beziehungen, ein starkes soziales Umfeld, sind dabei essenziell. Es gibt dort draußen eine unüberschaubare Anzahl an unterstützenswerten Projekten und interessanten Orten und es lohnt sich, sie kennenzulernen. Somit würde ich jedem jungen Menschen die Erfahrung eines ESK ans Herz legen.
Nicola verbachte ihren Freiwilligendienst bei Fix In Art / Anazitites Theatrou, ihr Projekt wird ko-finanziert von der Europäischen Union.